Digitale Referenzbaustelle
Wissenschaft und Industrie forscht an der Baustelle der Zukunft
Seit rund zwei Jahren zieht die Referenzbaustelle der RWTH Aachen interdisziplinäre Wissenschaftsteams, Unternehmen der Bauindustrie und Studierende gleichermaßen an. Gemeinsam forschen sie hier an einer Baustelle der Zukunft, in der Menschen und Maschinen in digitalisierte und automatisierte Planungs- und Bauprozesse eingebunden sind. Das Areal dient dem Center Construction Robotics als Reallabor.
Geht es nach Sigrid Brell-Cokcan, Professorin am Lehrstuhl für Individualisiertes Bauen und Teil der wissenschaftlichen Leitung des Center Construction Robotics, dann wird es irgendwann nicht mehr wichtig sein, ob jemand auf der Baustelle steht und diese leitet. Von Planenden bis Handwerkenden – alle von ihnen sollen in der Lage sein, mit unterstützenden Assistenzsystemen und intelligenten Maschinen selbst bauen zu können. Gleichzeitig sollen Planende so die Kontrolle über die gesamte Entwicklung des Gebäudes behalten, vom Entwurf bis zur Errichtung.
Reallabor für Forschung, Lehre und Industrie
Wie diese Systeme und Maschinen funktionieren könnten, das wird am Center Construcion Robotics untersucht, das 2018 von drei Lehrstühlen der RWTH Aachen sowie drei Unternehmen aus der Industrie ins Leben gerufen wurde. Gemeinsam sollen die aktuellen Lücken in den digitalisierten Arbeitsschritten aufgedeckt und neue Geschäftsmodelle entwickelt werden. Am Ende soll eine roboterbasierte Teilautomatisierung des Bauens stehen. Die neu entwickelten Prozesse, Produkte, vernetzten Maschinen und der Einsatz von Robotern, Softwarelösungen sowie Lehr-, Arbeits- und Kommunikationskonzepte können im Umfeld der Referenzbaustelle erprobt werden. 2020 wurde dem Center Construction Robotics diese 10.000 m² große Fläche auf dem Campus West von der RWTH Aachen zur Verfügung gestellt. Zusätzlich unterstützen zahlreiche Unternehmen aus der Bauindustrie die Referenzbaustelle finanziell und infrastrukturell. Auf dem Gelände mit seinen verschiedenen Bodenbeschaffenheiten finden sich neben Baumaschinen und Versuchsbauten flexibel nutzbare Containereinheiten für Schulungs- und Forschungsprojekte sowie Events. Dazu wird Beteiligten und Interessierten eine Auswahl an Hardware, Software und Maschinen angeboten.
Um die Funktion der Baustelle als Experimentierort und Reallabor zu stärken, basiert die Nutzung auf dem sogenannten Fair-Use-Prinzip. Außenflächen und Baustelleneinrichtungen können nach Anfrage von vielen unterschiedlichen Einrichtungen wie etwa Unternehmen, Forschungseinrichtungen, öffentliche Einrichtungen sowie Studierenden und Privatpersonen genutzt werden. Zusätzlich finden Veranstaltungen des englischsprachigen Studiengangs Construction & Robotics und anderer Fakultäten auf der Referenzbaustelle statt, bei der Studierende mit den Industriepartnern zusammenarbeiten können.
Laufende Forschungprojekte
Darüber hinaus sind auf der Referenzbaustelle mehrere Forschungsprojekte angesiedelt. Dazu gehört das Internet of Construction (IoC). Am IoC sind zehn Unternehmen aus der Bauindustrie, der Automation und dem Maschinenbau sowie Forschungseinrichtungen der RWTH Aachen beteiligt. Sie möchten gemeinsam Informationsnetzwerke entwickeln, die helfen, unternehmensübergreifende Kollaborationen zu optimieren und somit Termintreue und Bauqualität im Baubetrieb zu verbessern. Die Umsetzung und Anwendung der Entwicklungen wird auf der Referenzbaustelle anhand des sogenannten IoC-Demonstrators getestet. Der realmaßstäbliche Versuchsbau ist ein Ausschnitt aus einem Gebäudeentwurf, der die Fertigungsanforderungen der verschiedenen Gewerke des Stahlbetons, Holzbaus und Stahlbaus abbildet.
Anfang Augst 2020 startete hier zudem das Pilotprojekt für ein Forschungs- und Schulungszentrum für Bauprozesse und Baumaschinen am rheinischen Revier. Das Vorhaben widmet sich der Planung und Einrichtung von Baumaschinendemonstratoren und Testarealen für den Maschinenbetrieb. In diesem Zuge soll gleichzeitig ein Weiterbildungszentrum für Schulungen zu digitalen Bauprozessen auf dem Areal entstehen.
Seit 2022 ist außerdem das Projekt 5G.NAMICO angelaufen. Dabei soll ein 5G-Netz auf der Referenzbaustelle und in einem Bergwerk unter Tage eingerichtet werden. Ziel ist die Entwicklung von verbesserten Sicherheitskonzepten, die den Menschen in teil- und vollautomatisierten Prozessen schützen. Dafür werden im Projekt zunächst ausgewählte Anwendungsfälle betrachtet, die sich mit der Automatisierung einzelner Arbeitsprozesse und dem Sicherheitsaspekt befassen.
Was bringt die Zukunft?
Eine Vollautomatisierung wie in der Automobilproduktion, so vermutet Sigrid Brell-Cokcan, wird es nicht geben. Viele Einflussgrößen und eine relativ unstrukturierte Umgebung würden das verhindern. Automatisierung bedeutet für sie vor allem, unterstützende Assistenzsysteme für Menschen zu etablieren. Auf diese Weise sollen Digitalisierung und Automatisierung auch dazu beitragen, die Tätigkeiten auf Baustellen und ihr Image aufzuwerten.